Zwischen Schlager und Schatten
Es ist später Abend in der Nibelungenstraße. Der längste Tag des Jahres zieht sich langsam zurück, als wolle er noch ein wenig bleiben, bevor er sich endgültig verabschiedet. Die Nacht ist lau, die Luft hängt schwer – und dann dieser Duft. Die Linden blühen, nein: sie übertreiben es gerade maßlos. Süß, schwer, beinahe betörend. Als wolle der Sommer zeigen, was er kann, bevor er sich wieder verzieht.
Durch die offenen Fenster dringen altbekannte Klänge: Irgendeine Schlagersendung läuft. Ich riskiere einen Blick: Florian Silbereisen singt mit DJ Ötzi, Arm in Arm, Bühnenlicht in Dauerwelle. „Ist das schön, wenn alle gemeinsam singen“, sagt Florian, als wäre es ein heiliger Akt. Auf meinem Tablet läuft die Welt mit: Raketen auf Tel Aviv, Bomben auf Gaza und Teheran. Die Welt brennt – und auf dem Bildschirm glitzert die Schlagerseligkeit.
Der Duft einer unbegreiflichen Welt
Ich trete auf den Bürgersteig. Suche nach Klarheit in der milden Nacht. Doch da ist nur dieser Duft. Die Linden meinen es gut – fast zu gut. Es riecht nach Kindheit und Katastrophe zugleich. Nach einem Leben, das sich aufbäumt, weil es weiß, dass es nichts ändern kann.
Ein Auto rollt vorbei, Fenster halb offen. Der Fahrer singt laut mit – „Highway to Hell“. Vielleicht war er grillen. Vielleicht hat er gerade jemanden verloren. Vielleicht beides. Ich frage mich: Wie viele Wirklichkeiten trägt ein einziger Abend?
Schlager im Wohnzimmer. Krieg im Nahen Osten. Blütenduft in Kehl.
Ich atme tief ein. Es riecht nach Sommer. Und nach einer Welt, die gleichzeitig lebt und untergeht.