Hier ruht sie, die arme Wahrheit. Sie starb langsam, nicht plötzlich – erst wurde sie verdreht, dann verleumdet, und am Ende hat sie sich selbst aufgegeben. Es begann harmlos: ein paar „alternative Fakten“, ein Scherz hier, eine Verdrehung dort. Doch dann fanden sich immer mehr, die ihre Lügen für Wahrheiten hielten, und siehe da – die dunklen Zeiten klopften höflich an die Tür.

Man soll ja nicht gleich schwarzsehen. Aber wenn es finster wird, kann man auch nicht so tun, als sei es bloß Abenddämmerung. Lange gab es eine stille Übereinkunft darüber, was als wahr gelten durfte – nicht perfekt, aber stabil genug, um Orientierung zu bieten. Doch diese Übereinkunft ist verschwunden.

Manche sagen, sie habe sich einfach aufgelöst, sei unter der Last widersprüchlicher Stimmen zusammengebrochen. Ein Irrtum! Sie wurde Stück für Stück zersetzt, ausgehöhlt von Schlagworten, Verdrehungen und laut gebrülltem Unfug. Ein gewisser Klub, der sich aus sehr besorgten Bürgern zusammensetzt, hat kräftig nachgeholfen. Erst riefen sie, sie seien „das Volk“, dann wollten sie definieren, wer dazugehört – und jetzt schreien sie: „Man wird ja wohl noch sagen dürfen!“

Der Verlust ist größer, als viele denken. Die Wahrheit war oft unbequem, aber zuverlässig. Sie bestand darauf, dass zwei plus zwei vier ist, dass die Erde rund ist und dass Politiker Fehler machen, aber deshalb nicht gleich an einer Weltverschwörung basteln. Eine Zumutung! Kein Wunder, dass die Partei der Erregten sie ins Exil trieb. Dort begegnete sie dem Faktencheck, der ebenfalls auf gepackten Koffern saß.

Bei der Trauerfeier sind alle da. Vornweg marschieren die Empörten, die sich unterdrückt fühlen, weil man ihnen widerspricht. Dahinter die Professoren der YouTube-Universität, die jede Lüge für wahr halten, solange sie ihnen ins Konzept passt. Und mittendrin die Lautesten von allen: „Ich bin kein Nazi, aber…“-Flüsterer und die „Früher war alles besser“-Nostalgiker. Sie singen inbrünstig das Lied der gekränkten Mehrheit, die endlich wieder siegen will.

Am Grab redet einer mit Bierdeckel-Programmatik, der von „Mut zur Wahrheit“ spricht, aber den Mut zur Realität scheut. Neben ihm steht der Mann, der die Diktatur abschaffen will, die es gar nicht gibt, und hinter ihnen kichert der, der den Untergang des Abendlandes kommen sieht. Die Beisetzung ist würdevoll – und danach wird auf Telegram gefeiert.

Doch die Geschichte lehrt uns: Die Wahrheit ist zäh. Sie lässt sich nicht endgültig begraben. Vielleicht steht sie gerade in einer dunklen Ecke, schüttelt den Kopf und wartet. Wartet darauf, dass jemand merkt, dass es nicht Abenddämmerung ist – sondern dass der Lichtschalter fehlt.

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