Ich stand kürzlich vor der Auslage der Kehler Buchhandlung Baumgärtner. Da lag er wieder, ein frisch erschienener Roman, mit einem Cover, das nach Dramatik und Bestsellerduft riecht. Die Sonne spiegelte sich in der Scheibe, und plötzlich war ich wieder fünfzehn, drinnen, zwischen Bestsellerregal und Kochbuchabteilung, ein halber Nachmittag lang auf der Flucht vor der Welt, die draußen immer kleinteiliger wurde. Damals roch es nach frisch gedrucktem Papier und ein bisschen nach Heizung. Ich blätterte, schmökerte, verglich Klappentexte wie Weinbeschreibungen. Und ich kaufte. Regelmäßig. Stolz trug ich meine Beute nach Hause – meistens die neuesten Romane, frisch erschienen, direkt vom Stapel.
Heute? Heute trage ich das schlechte Gewissen.
Denn seit vielen Jahren bestelle ich Bücher online. Anfangs aus Bequemlichkeit, dann aus Gewohnheit. Und seit Corona: fast ausschließlich gebraucht. Es begann harmlos – ein bisschen sparen, ein bisschen Nachhaltigkeit. Doch irgendwann wich die Vernunft der Obsession. Ich fing an, mir Sorgen zu machen. Wer hatte das Buch vor mir? Hatte jemand beim Lesen geniest? In der Badewanne gelesen? Gegessen?
Ich entwickelte eine Methode. Keiner Leseeindrücke ohne Desinfektionsritual. Zuerst: Wischen mit Alkohol – doch das verwischte die Tinte. Dann: Einfrieren – aber der Geruch blieb. Schließlich, nach einer schlaflosen Nacht kam mir die Erleuchtung: die Mikrowelle.
Die Stunde der Strahlung
Ich griff ins Regal – ein Testobjekt musste her. Es traf Effi Briest. Warum auch nicht. Fontane würde das überleben. Ich legte das Buch auf den Drehteller, stellte 600 Watt ein und starrte wie ein Mensch, der gerade seine moralischen Grundsätze toastet.
Nach 30 Sekunden knackte es. Nach 45 roch es. Nach einer Minute öffnete ich die Tür. Effi war heiß, aber am Leben. Wahrscheinlich keimfrei. Und vielleicht sogar innerlich gereinigt.
Seitdem ist die Mikrowelle mein stiller Literaturkritiker. Manche Bücher platzen auf. Manche duften leicht angebrannt…. Eines – ein Ratgeber über Achtsamkeit – begann zu qualmen. Ironie ist eben doch ein thermisches Prinzip.
Natürlich fühle ich mich schlecht. Ich laufe an der Buchhandlung vorbei wie ein Ex-Raucher am Tabakladen. Und doch weiß ich: Ich kann nicht mehr zurück. Die Mikrowelle hat mich versaut. Oder vielleicht auch nur gerettet. Wer weiß das schon in Zeiten wie diesen, wo zwischen Hygienewahn und Leselust manchmal nur eine dünne Glasscheibe liegt – oder eine Minute auf 600 Watt.
Eines aber bleibt: Die langen, ziellosen Schmökerstunden in der Buchhandlung – zwischen Klappentexten, Regalgängen und Stille – vermisse ich bis heute.