Mitte Mai, in den Rheinauen bei Goldscheuer. Der Wind streicht durchs hohe Gras, die Schnaken sind pünktlich wie jedes Jahr, und am Wegesrand blühen Giersch und Scharfer Hahnenfuß um die Wette. Ich gehe mit Pepe, meinem junggebliebenen Goldie, der sich stoisch durch die Vegetation schnauft. Er bleibt stehen, hebt den Kopf, senkt ihn wieder, schnüffelt. Ich will gerade einen Fuß weiter setzen – da sehe ich es.
Ein Kopf. Kein Mensch. Kein Reh. Ein Hirschkäfer. Genauer: das, was von ihm übrig ist. Ein glänzender, braunschwarzer Käferkopf, der ehrfurchtgebietend aus dem Waldboden ragt wie ein Fundstück aus der Vorzeit. Die Geweihe – also die imposanten Kieferzangen – stehen wie kleine Antennen in die Luft, stumm, aber stolz, als wartete da noch jemand auf den Applaus.
Minimalismus mit Mandibeln
Ich schaue mich um. Kein Körper. Kein Rest. Nur das Haupt. Einsam und würdevoll… Wahrscheinlich hat ein Specht sein Abendessen optimiert – zartes Käferfilet, Kopf bleibt liegen. Auch in der Tierwelt herrscht Effizienzdenken.
Dass ich mitten in Goldscheuers Auen über Chitintrümmer stolpere, hätte ich nicht gedacht. Meistens mache ich zügig meinen Weg, zielgerichtet, mit Blick auf die Uhr. Heute bleibe ich stehen. Wegen eines Insektenkopfs. Ich frage mich, was der mir sagen will. Vielleicht: Man kann noch so beeindruckend sein – am Ende liegst du zwischen Brennnesseln und Maulwurfshaufen, und niemand applaudiert mehr. Außer vielleicht ein Frosch. Oder der Wind.
Sterben mit Stil
Die Männchen der Hirschkäfer sterben oft kurz nach der Liebe. In den Rheinauen wird nicht lange gefackelt. Leben, kämpfen, kopflos enden. Kein großes Theater. Kein Nachruf. Nur Mandibeln im Gras.
Ich gehe weiter. Pepe trottet voran, bleibt dann stehen, blickt sich um. Zwei Schritte später liegt schon der nächste. Wieder nur der Kopf. Vielleicht war’s ein Revierkampf. Vielleicht ein Date. Vielleicht einfach Pech. Oder alles zusammen. In Goldscheuer jedenfalls sterben die Hirschkäfermännchen wie die Fliegen – nur mit Stil. Und mit Geweih.