Kürzlich ging ich entlang der Hauptstraße und bemerkte eine ältere Dame, die an einem Straßencafé verdächtig lange an ihrer winzigen Espressotasse nippte. Während um sie herum die Welt im gewohnten Rhythmus pulsierte, schien sie einen anderen Takt zu hören – langsamer, konzentrierter, fast trotzig gegen die Zeit. Vielleicht war es in diesem Moment, dass mir auffiel: Der Espresso ist kein Getränk. Er ist eine Haltung.
Es gibt Getränke, die eine Kultur beschreiben können. Der Espresso ist eines davon. Er ist das Gegenteil unserer Zeit – kurz, konzentriert, ohne Zucker, ohne Entschuldigung. Während draußen die Welt im Schatten von Flat White, Americano und Doppio-Latte ihre Runden dreht, bleibt der Espresso das moralische Rückgrat der Kaffeekultur. Er verweigert das Übermaß. Er ist Reduktion als Charakterfrage.
Manchmal kann man es in einem Café kaum aushalten – die Gäste kennen unendliche Varianten: „Bitte mit Sojamilch, Hafermilch, extra mild, aber stark, heiß, aber nicht zu heiß – und bitte to go!“ Der Espresso ist nicht to go. Er ist to be. Er duldet kein Weglaufen, keine Nebentätigkeit. Man trinkt ihn im Stehen, schweigend, mit Blick auf nichts Bestimmtes. Er ist eine kleine Zeremonie des Daseins, die nur ein paar Sekunden dauert, aber so tut, als wäre die Zeit kurz stehen geblieben.
Vielleicht ist der Espresso die letzte Bastion gegen die Zerstreuung. Er zwingt uns, für einen Moment ganz zu sein – nicht erreichbar, nicht multitaskingfähig, nicht optimiert. Nur gegenwärtig. In seiner bitteren Konzentration steckt eine Erinnerung an das Wesentliche: dass Genuss nicht in der Menge liegt, sondern in der Aufmerksamkeit.
Jeder Espresso ist ein stiller Appell, die Welt wieder in kleinen Dosen zu ertragen.
Ich bin fest davon überzeugt: Wer Espresso trinkt, übt Widerstand gegen das Aufschäumen der Belanglosigkeit. Es ist ein winziger, eleganter Aufstand.